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Er blieb die ganze Nacht hindurch fort, fand aber nirgends Frieden, nicht mal, als er durch die tiefste Nacht wanderte, geschweige denn in den bereits geschäftigen Stunden der Morgendämmerung. Es gab keine tiefe Nacht. Er konnte sich nicht genau an seine Route erinnern, hatte den Eindruck, quer durch die Stadt und weiter auf dem oder rund um den Broadway herum zurückgewandert zu sein, aber er konnte sich an die schiere Lautstärke des weißen und farbigen Lärms erinnern. Er konnte sich an den Lärm erinnern, der in abstrakten Formen vor seinen rotgerandeten Augen tanzte. Die Jacke seines Leinenanzugs wog schwer und feucht auf seinen Schultern, doch da er wußte, wie man sich richtig verhielt, was man tat und was man nicht tat, behielt er sie an; auch seinen Panamahut behielt er auf. Der Lärm der Stadt nahm beinah täglich zu, aber vielleicht war es auch seine Empfindlichkeit gegen diesen Lärm, die bis zum Schreien gesteigert wurde. Müllwagen krochen wie riesige Kakerlaken durch die Stadt, laut brüllend. Nie war er außer Hörweite einer Sirene, einer Alarmanlage, der Huperei eines großen Fahrzeugs im Rückwärtsgang, des Taktschlags einer unerträglichen Musik.

Die Stunden vergingen. Kieslowskis Personen blieben bei ihm. Was ist die Wurzel unseres Tuns? Zwei Brüder, einander und beide dem Vater entfremdet, wurden fast wahnsinnig durch die Macht seiner unbezahlbaren Briefmarkensammlung. Ein Mann erfuhr, daß er impotent war, und merkte, daß er die Vorstellung, seine geliebte Frau werde eine sexuelle Zukunft ohne ihn haben, nicht ertragen konnte. Wir erhaschen nur einen flüchtigen Blick auf die verschleierten Gesichter, doch ihre Macht treibt uns vorwärts, auf die Dunkelheit zu. Oder ins Licht.

Als er in seine Straße einbog, begannen sogar die Häuser im sonoren Ton der im höchsten Maße Selbstsicheren, der Herrscher der Welt, mit ihm zu sprechen. Die Schule des Heiligen Sakraments missionierte auf in Stein gehauenem Latein. PARENTES CATHOLICOS HORTAMUR UT DILECTAE PROLI SUAE EDUCATIONEM CRISTIANAM ET CATHOLICAM PROCURANT. Die Worte erzeugten in Solanka keine Reaktion. Nebenan glänzte ein eher glückskeksartiger Sinnspruch in goldenen Lettern auf einem mächtigen DeMille-assyrischen Portal. WENN BRUDERLIEBE ALLE MENSCHEN VERBÄNDE, WIE SCHÖN WÜRDE DIE WELT SEIN. Vor einem Dreivierteljahrhundert war dieses Bauwerk, knallig schön in der grellsten Manier dieser Stadt, dem Pythianismus gewidmet worden, wie auf dem Eckstein zu lesen war, und das, ohne von der Kollision der griechischen und mesopotamischen Ornamente peinlich berührt zu sein. All dieses Plündern und Vermengen des Warenlagers gestriger Imperien, der ganze Schmelztiegel, die metissage vergangener Macht war der eigentliche Indikator der gegenwärtigen Stärke.

Pytho war der alte Name von Delphi, Heimat des Python, der mit Apollo rang; und des berühmteren Orakels von Delphi, wo Pythia die prophetische Priesterin war, ein Wesen der Raserei und der Ekstase. Solanka konnte sich nicht vorstellen, daß es das war, was die Erbauer mit Pythianisch meinten: den Konvulsionen und Epilepsien gewidmet. Auch für die bescheidene - die großartig, machtvoll bescheidene - Ausübung der Poesie konnte ein so heroisch konzipiertes Haus nicht gedacht sein. (Die Pythische Verskunst wird in daktylischen Hexametern geschrieben.) Vermutlich hatte man dabei eher apollonische Bezüge im Sinn, Apollo in seiner musikalischen und seiner athletischen Inkarnation. Vom sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an wurden die Pythischen Spiele, eines aus dem großen Quartett Panhellenischer Feste, im dritten Jahr der Olympischen Zyklen abgehalten. Es gab musikalische sowohl als auch sportliche Wettbewerbe, und selbst der große Kampf des Gottes mit der Schlange wurde nachgespielt. Vielleicht waren ein paar Bruchstücke davon auch jenen bekannt, die diesen Schrein der Halbbildung erbauten, diesen dem Glauben gewidmeten Tempel, daß Ignoranz, von ausreichend vielen Dollars gestützt, zu Wissen wird. Dem Tempel des Boobus Apollo.

Zum Teufel mit diesem klassischen Mischmasch, rief Professor Solanka in Gedanken aus. Denn er war umgeben von einer weit größeren Gottheit: Amerika, in der größten Stunde seiner hybriden, omnivoren Macht. Amerika, zu dem er gekommen war, um sich selbst auszulöschen. Um frei von Bindungen und daher auch von Zorn, Angst und Schmerz zu sein. Verschlinge mich, betete Professor Solanka lautlos. Verschlinge mich, Amerika, und schenke mir Frieden.

Gegenüber von Pythias falschem assyrischen Palast öffnete gerade New Yorks bester Abklatsch eines Wiener Kaffeehauses seine Pforten. Hier fand man Times und Herald Tribune sauber in Holzleisten eingeklemmt. Solanka ging hinein, um starken Kaffee zu trinken und sich am ewigen Imitationsspiel dieser vergänglichsten aller Städte zu beteiligen. In seinem inzwischen zerknitterten Leinenanzug und dem Panamahut konnte man ihn für einen der heruntergekommeneren Habitues des Cafe Hawelka in der Dorotheergasse halten. In New York sah niemand allzu genau hin, und nur die Augen weniger Personen waren auf die alten europäischen Feinheiten trainiert. Der ungestärkte Kragen am schweißfleckigen Hemd von Banana Republic, die staubigen braunen Sandalen, der struppige Bart (weder sorgfältig gestutzt noch fein pomadisiert), sie wurden hier von niemandem mißbilligt. Selbst sein Name, wäre er jemals verpflichtet gewesen, ihn zu nennen, klang annähernd mitteleuropäisch. Was für ein Ort, dachte er. Eine Stadt der Halbwahrheiten und Echos, die irgendwie die Erde beherrscht. Und der Blick ihrer Augen, smaragdgrün, drang tief ins Herz hinein.

Als er sich der Theke mit ihrer tiefgefrorenen Auswahl an meisterlichem Gebäck aus Österreich näherte, ging er an dem verlockend aussehenden Sacher-gâteau vorbei und bat um ein Stück Linzertorte, was ihm einen Blick perfekter, hispanischer Verständnislosigkeit eintrug, was ihn wiederum verpflichtete, voller Verzweiflung mit dem Finger darauf zu zeigen. Dann konnte er endlich trinken und lesen.

Die Morgenzeitungen waren voller Artikel über den Bericht vom menschlichen Genom. Die bisher beste Version des glorreichen Buchs des Lebens nannten sie es, ein Ausdruck, der verschiedentlich benutzt wurde, um die Bibel und den Roman zu beschreiben, obwohl diese neue Glorie gar kein Buch war, sondern eine elektronische Nachricht im Internet, ein in vier Aminosäuren geschriebener Code, und Professor Solanka war nicht sehr gut in Codes, hatte es nie geschafft, auch nur die einfachsten römischen Zahlen zu lernen, ganz zu schweigen von Flaggensignalen oder dem inzwischen untergegangenen Morsealphabet, das heißt, bis auf das, was alle davon wußten. Di di dit da da da di di dit. SOS. Alle stellten Spekulationen über die Wunder an, die auf den Genom-Triumph folgen würden, zum Beispiel die zusätzlichen Glieder, die wir uns wachsen lassen könnten, um das Problem zu lösen, wie man beim Kalten Buffet einen Teller und ein Weinglas halten und zugleich essen konnte; aber für Malik waren die einzigen Gewißheiten erstens, daß alle Entdeckungen, die möglicherweise gemacht wurden, zu spät kommen würden, um für ihn von Nutzen zu sein, und zweitens, daß dieses Buch - das alles änderte, das das philosophische Wesen unseres Seins verwandelte, das einen so immensen quantitativen Wandel in unserem Selbst-Wissen beinhaltete, daß es zugleich ein qualitativer Wandel war - ein Buch war, das er niemals zu lesen fähig sein würde. Während menschliche Wesen von diesem hohen Grad des Verstehens ausgeschlossen waren, konnten sie sich damit trösten, daß sie alle zusammen im selben Morast der Ignoranz saßen. Nun, da Solanka wußte, daß irgend jemand irgendwo wußte, was er nie wissen würde, und ihm außerdem durchaus klar war, daß es lebenswichtig war, das zu wissen, was bekannt war, empfand er den unbestimmten Ärger, den langsam aufsteigenden Zorn des Ignoranten. Er kam sich vor wie eine Drohne oder eine Arbeitsameise. Er kam sich vor wie einer der vielen kleinen Leute in den alten Filmen von Chaplin und Fritz Lang, wie einer der Gesichtslosen, die dazu verurteilt waren, ein Rädchen im gesellschaftlichen Getriebe zu sein und sich abzuschuften, während von hoch oben das Wissen Macht über sie ausübte. Das neue Zeitalter hatte neue Kaiser, und er würde ihr Sklave sein.

»Sir? Sirl« Eine junge Frau stand vor ihm, unangenehm dicht vor ihm, in einem bleistiftschmalen, knielangen marineblauen Rock und einer schicken weißen Bluse. Das blonde Haar hatte sie sich straff zurückfrisiert. »Ich muß Sie bitten, zu gehen, Sir.« Das hispanische Thekenpersonal wartete gespannt, einsatzbereit. Professor Solanka war aufrichtig verblüfft: »Was scheint denn hier das Problem zu sein, Miss?«

»Was ist das Problem, Sir, nicht scheint. Sie haben anstößige Ausdrücke benutzt, obszöne Ausdrücke, und zwar laut. Das Unaussprechliche ausgesprochen, möchte ich sagen. Laut herausgerufen haben Sie es. Und nun fragen Sie erstaunlicherweise, was das Problem ist. Sie sind das Problem, Sir. Und Sie werden jetzt bitte gehen.« Endlich, dachte er noch, als er diesen verbalen Rausschmiß erhielt, endlich ein Augenblick der Wahrheit. Hier gibt es mindestens einen Österreicher. Er erhob sich, zog sein zerknittertes Jackett um sich und ging hinaus, wobei er den Hut zog, aber nicht vor ihr. Es gab keine Erklärung für die seltsame Ansprache der jungen Frau. Als er noch mit Eleanor schlief, warf sie ihm vor, er schnarche. Er befand sich halbwegs zwischen Wachsein und Schlaf, und sie versetzte ihm einen Rippenstoß und sagte: Dreh dich auf die Seite. Aber ich bin bei Bewußtsein, wollte er sagen, er konnte sie sprechen hören, und wenn er ein derartiges Geräusch von sich gegeben hatte, hätte er es daher auch hören müssen. Nach einer Weile gab sie es auf, ihn zu belästigen, und er schlief wieder ein. Bis er einmal nicht wieder einschlief. Nein, nicht wieder das, jetzt nicht. Jetzt, da er wieder mal bei vollem Bewußtsein war und alle möglichen Geräusche in den Ohren hatte.

Als er zu seiner Wohnung kam, sah er einen Arbeiter draußen auf einem Hängegerüst vor seinem Fenster, der Reparaturarbeiten an der Außenseite des Gebäudes ausführte, und seinem Kollegen, der unten auf dem Bürgersteig saß und eine beedi rauchte, in lautem, rollenden Punjabi Anweisungen und schmutzige Witze zurief. Sofort rief Malik Solanka seine Vermieter an, die Jays, wohlhabende Biobauern, die den Sommer im Norden des Staates bei ihrem Obst und ihrem Gemüse verbrachten, und ließ eine saftige Beschwerde los. Dieser unzivilisierte Lärm sei unerträglich. Im Mietvertrag heiße es deutlich, daß die Arbeiten nicht nur außerhalb des Hauses, sondern auch geräuschlos vonstatten gehen würden. Darüber hinaus funktioniere die Toilette nicht richtig; kleine Stückchen von Exkrementen kämen wieder hoch, nachdem er gespült habe. In der Stimmung, in der er sich befand, verursachte ihm das Qualen von einer Stärke, die dem Problem unangemessene Proportionen angenommen hatte, und so schilderte er Mr. Simon Jay seine Gefühle mit nachdrücklicher Vehemenz, Mr. Jay, dem sanften, verwirrten Eigentümer der Wohnung, der dreißig Jahre lang glücklich mit seiner Frau Ada in dieser Wohnung gelebt, seine Kinder in diesen Räumen großgezogen, sie an diese selben Wasserklosetts gewöhnt und jeden einzelnen Tag seines Aufenthalts hier als schlichtes, ungetrübtes Vergnügen empfunden hatte. Solanka interessierte das nicht. Eine zweite Spülung hätte das Problem natürlich gelöst, aber das war nicht akzeptabel. Ein Klempner mußte her, und zwar bald.

Aber der Klempner war, genau wie die Punjabi-Bauarbeiter, sehr redefreudig, ein Achtzigjähriger namens Joseph Schlink. Hoch aufgerichtet, drahtig, mit weißen Haaren wie Albert Einstein und Vorderzähnen wie Bugs Bunny, kam Joseph zur Tür herein, getrieben von einer Art defensiven Stolzes, um seine Verteidigung vorneweg anzubringen. »Sagen Sie nichts, ja? Ich bin zu alt, werden Sie denken, oder vielleicht auch nicht, ich will nicht behaupten, daß ich Gedanken lesen kann, aber einen besseren Klempner werden Sie weit und breit nicht finden, außerdem bin ich fit wie ’n Turnschuh oder ich will kein Schlink sein.« Das alles in dem starken, niemals auszumerzenden Akzent verpflanzter deutscher Juden. »Sie amüsieren sich über meinen Namen? Lachen Sie doch! Der Tschentlemän, Mr. Simon, nennt mich Küchen-Schlink, für seine Mrs. Ada bin ich auch noch der Toiletten-Schlink, sollen sie mich doch den Bismarck-Schlink nennen, das macht mir nichts, wir leben in einem freien Land, aber in meinem Beruf kann ich mit Humor nichts anfangen. Auf Latein ist humor eine Feuchtigkeit, die aus dem Auge kommt. Das nur, um Heinrich Böll zu zitieren, Nobelpreis neunzehnhundert-zwoundsiebzig. Keine feuchten Augen bei mir, ja? Und keine Witze in meinem Werkzeugkasten. Ich will nur meine Arbeit prompt erledigen und meine Bezahlung ebenso prompt einstecken, wenn Sie mir folgen können. Wie der shwartze im Kino sagt, zeig mir die Pinke. Nach einem Krieg, in dem ich Lecks an den Nazi-U-Booten abgedichtet habe, glauben Sie da, ich könnte Ihren kleinen Lokus hier nicht flicken?«

Ein gebildeter Klempner, der eine Geschichte zu erzählen hat, erkannte Solanka resignierend. (Er verbiß sich das verführerische Schlinkern.) Und das, während er fast zu müde war, um sich aufrecht zu halten. Die Stadt erteilte ihm eine Lektion. Es gab kein Entrinnen vor den Störungen, vor dem Lärm. Er hatte den Ozean überquert, um sein Leben vom Leben zu trennen. Er war auf der Suche nach Stille gekommen und fand eine Lautstärke, die größer war als jene, die er zurückgelassen hatte. Der Lärm war jetzt sogar in ihm. Er fürchtete sich, den Raum zu betreten, in dem die Puppen waren. Vielleicht würden auch sie anfangen, auf ihn einzureden. Vielleicht würden sie zum Leben erwachen und plappern und tratschen und kichern, bis er sie ein für allemal zum Schweigen gebracht hatte, bis er sich durch die Omnipräsenz des Lebens, durch dessen sture Weigerung, sich zurückzuziehen, durch die schiere, gottverdammt unerträgliche, ohrenbetäubende Lautstärke des dritten Jahrtausends gezwungen sah, ihnen die beschissenen Köpfe abzureißen.

Tief durchatmen. Er machte eine kreisförmige Atemübung. Nun gut. Er würde die Geschwätzigkeit des Klempners als Buße hinnehmen. Sie über sich ergehen zu lassen, als eine Übung in Demut und Selbstbeherrschung. Dies war ein jüdischer Klempner, der den Todeslagern entkommen war, indem er unter Wasser ging. Seine Fähigkeiten als Klempner bedeuteten, daß die Besatzung ihn beschützt hatte, daß sie bis zum Tag der Kapitulation an ihm festgehalten hatte, bis er befreit wurde, nach Amerika kam und seine Geister hinter sich ließ oder, um es anders auszudrücken, sie mitbrachte.

Schlink hatte die Geschichte schon tausendmal erzählt, abertausendmal. Und so kam sie in einstudierten Sätzen und Kadenzen heraus. »Sie können sich das nicht vorstellen. Ein Klempner in einem U-Boot ist an sich schon ein bißchen komisch, aber darüber hinaus ist da die Ironie, die psychologische Komplexität. Das muß ich Ihnen ja nicht erklären. Aber ich stehe vor Ihnen. Ich habe gelebt mein Leben. Ich habe gehalten, ja?, mein Versprechen.« Ein Leben wie ein Roman, das mußte Solanka zugeben. Und wie ein Film. Ein Leben, das als mittelteurer Spielfilm Erfolg haben konnte. Dustin Hoffman vielleicht als Klempner, und als der U-Boot-Kapitän, wer? Klaus Maria Brandauer, Rutger Hauer. Aber vermutlich würden beide Rollen an jüngere Schauspieler vergeben, deren Namen Malik nicht kannte. Selbst das ließ mit den Jahren nach, das Filmwissen, auf das er immer so stolz gewesen war. »Sie sollten das aufschreiben und einreichen«, sagte er zu Schlink und sprach dabei ein bißchen zu laut. »Es ist, wie man so sagt, ein erstklassiges Konzept, eine Mischung aus U-571 und Schindlers Liste. Vielleicht eine doppeldeutige Komödie wie die von Benigni. Nein, härter als die von Benigni. Mit dem Titel Jewboat.« Schlink erstarrte; und bevor er seine volle, gekränkte Aufmerksamkeit der Toilette zuwandte, richtete er seinen traurigen, angewiderten Blick auf Solanka. »Keinen Humor«, sagte er. »Wie ich schon sagte. Ich muß leider feststellen, daß Sie ein sehr respektloser Mensch sind.«

Und unten in der Küche war die polnische Putzfrau Wislawa eingetroffen. Sie gehörte zur Untermiete, weigerte sich, zu bügeln, ließ die Spinnweben unangetastet in den Ecken hängen, und wenn sie gegangen war, konnte man auf dem Kaminsims einen Strich durch den Staub ziehen.

Auf der Habenseite war sie von angenehmem Wesen und besaß ein breites, Zahnfleisch entblößendes Lächeln. Gab man ihr jedoch nur die geringste Chance, aber auch wenn man das nicht tat, stürzte sie sich in eine Flut von Worten. In die gefährliche, durch nichts aufzuhaltende Macht des Erzählens. Wislawa, eine fromme Katholikin, hatte erleben müssen, daß ihr Glaube durch eine scheinbar wahre Geschichte zutiefst erschüttert wurde, die ihr Ehemann erzählt hatte, der sie von seinem Onkel hatte, der sie von einem vertrauenswürdigen Freund hatte, der den Betreffenden kannte, einen gewissen Ryszard, der viele Jahre lang persönlicher Chauffeur des Papstes gewesen war, natürlich bevor er auf den Heiligen Stuhl gewählt wurde. Als die Zeit für jene Wahl näher kam, fuhr Ryszard, der Chauffeur, den zukünftigen Papst durch ganz Europa, ein Europa, das an einem Wendepunkt seiner Geschichte stand, am Vorabend gewaltiger Veränderungen. Ach, die Kameradschaft der beiden Männer, die einfachen menschlichen Freuden und Leiden einer so langen Fahrt! Und dann, als sie den Vatikan erreichten, wurde der Geistliche mit seinen Kollegen eingesperrt, während der Fahrer wartete. Endlich stieg der weiße Rauch auf, der Ruf habemus papam erklang, und dann kam ein Kardinal, ganz in Rot, eine riesige, breite Freitreppe aus gelben Steinen herab, langsam, steif, wie ein Darsteller in einem Fellinifilm, und unten an der Treppe wartete der kleine, stinkende Wagen mit seinem aufgeregten Fahrer. Der Kardinal wischte sich die Stirn und trat keuchend ans Fahrerfenster, das Ryszard in Erwartung der Nachricht heruntergekurbelt hatte. Und so konnte der Kardinal die persönliche Botschaft des neuen, des polnischen Papstes überbringen: »Sie sind gefeuert.«

Solanka, kein Katholik, kein Gläubiger und an dieser Geschichte nicht sehr interessiert, auch wenn sie tatsächlich wahr sein sollte, aber nicht im entferntesten davon überzeugt, daß sie wahr war, außerdem keineswegs darauf aus, beim Kampf der Putzfrau mit dem kleinen Teufel des Zweifels, der gegenwärtig ihre unsterbliche Seele im Schwitzkasten hielt, den Schiedsrichter zu spielen, hätte es vorgezogen, überhaupt nicht mit Wislawa zu sprechen, hätte sich gewünscht, sie möge sich lautlos in der Wohnung bewegen, um sie makellos und bewohnbar, mit gewaschener, gebügelter und gefalteter Wäsche zu hinterlassen. Doch trotz der Kosten von über achttausend Dollar im Monat für die Miete, Putzfrau inklusive, hatte das Schicksal ihm recht miserable Karten zugeteilt. Zum Thema von Wislawas gefährdeter Reservierung im Himmel wollte er sich allen Ernstes keinen Kommentar erlauben; aber sie kam immer wieder darauf zurück. »Wie soll man den Ring eines solchen Heiligen Vaters küssen, dabei ist er aus meiner Heimat, aber o Gott, einen Kardinal zu schicken und einfach so, ganz obenhin, die Kündigung auszusprechen! Und wenn nicht der Heilige Vater, was ist dann mit seinen Priestern, und wenn nicht mit seinen Priestern, was dann mit Beichte und Absolution, und hier tun sich unter meinen Füßen die Tore der Hölle auf!«

Professor Solanka, dessen Zündschnur immer kürzer wurde, geriet täglich mehr in die Versuchung, etwas Unfreundliches zu sagen. Das Paradies, hätte er Wislawa gern gesagt, sei ein Ort, dessen Geheimnummer nur die Coolsten und Höchststehenden von New York besäßen. Als Zugeständnis an den demokratischen Geist würden außerdem ein paar normale Sterbliche eingelassen; die zeigten dann, wenn sie eintrafen, eine angemessen ehrfürchtige Miene, die Miene jener, die wissen, daß sie tatsächlich, ein einziges Mal, Glück gehabt haben. Die großäugige Erregung dieses Brücken-und-Tunnel-Mobs würde die übersättigte Genugtuung der In-Leute und natürlich des Eigentümers selbst drastisch erhöhen. Angesichts des Gesetzes von Angebot und Nachfrage war es jedoch ganz außerordentlich unwahrscheinlich, daß Wislawa zu den wenigen Glücklichen auf den billigen Plätzen, den sonnengebadeten Bankreihen der Ewigkeit gehören würde.

Das und viel mehr zu sagen verkniff sich Solanka. Statt dessen wies er sie auf Staub und Spinnweben hin, woraufhin er in den Genuß des Zahnfleischlächelns und einer Geste Krakauer Unverständnisses gelangte. »Ich arbeite für Mrs. Jay sehr lange.« In Wislawas Augen waren mit diesen Worten alle Klagen beantwortet. Nach der zweiten Woche gab Solanka das Fragen auf, wischte auf den Kaminsimsen selber Staub, entfernte die Spinnweben und trug seine Hemden in die gute chinesische Wäscherei gleich um die Ecke an der Columbus Avenue. Doch ihre Seele, ihre nicht existierende Seele, fuhr fort, immer wieder einmal an seine pastorale, seine unhilfsbereite Hilfe zu appellieren.

Solankas Kopf begann sich ein wenig zu drehen. Des Schlafes beraubt, von wilden Gedanken getrieben, steuerte er das Badezimmer an. Hinter ihm konnte er durch die dicke, feuchte Luft seine Puppen hören, die jetzt lebendig geworden waren und hinter ihrer geschlossenen Tür zu plappern begannen; jede erzählte der anderen seine oder ihre Hintergrundstory, die Geschichte ihrer Entstehung.

Die imaginäre Geschichte, die er, Solanka, sich für eine jede von ihnen ausgedacht hatte. Wenn eine Puppe keine Hintergrundstory hatte, war ihr Marktwert gering. Und wie mit den Puppen, so war es auch mit den Menschen. Das ist es, was wir bei der Reise über die Meere, über die Grenzen, durch das Leben mitgebracht haben: unseren kleinen Vorrat an Anekdoten und Wie-ging-es-weiter, unser ganz persönliches Es-war-einmal. Wir waren unsere Story, und wenn wir starben, würden wir, wenn wir großes Glück hatten, in einer anderen dieser Geschichten Unsterblichkeit erlangen.

Das war die große Wahrheit, gegen die sich Malik Solanka wehrte. Gerade seine Hintergrundstory war es, die er auslöschen wollte. Es war ganz gleich, woher er kam und wer, als der kleine Malik gerade laufen gelernt, seine Mutter verlassen und es ihm so ermöglicht hatte, später das gleiche zu tun. Zum Teufel mit Stiefvätern und Kopfnüssen für kleine Jungen, und Feinmachen, und schwachen Müttern und schuldigen Desdemonas und der ganzen nutzlosen Bagage von Blut und Familie. Er war, wie so viele vor ihm, nach Amerika gekommen, um den Segen derer von Ellis Island zu empfangen, um noch einmal von vorn zu beginnen. Gib mir einen Namen, Amerika, mach einen Buzz, Chip oder Spike aus mir. Bade mich in Amnesie und kleide mich in dein machtvolles Nichtwissen. Nimm mich in deine J. Crew auf und reiche mir meine Mäuseohren! Laß mich kein Historiker mehr sein, sondern ein Mann ohne Vergangenheit. Ich werde mir die lügnerische Mutterzunge aus dem Mund reißen und statt dessen dein gebrochenes Englisch sprechen. Scan mich, digitalisiere mich, beam me up. Wenn die Vergangenheit die kranke alte Erde ist, dann, Amerika, sei meine Fliegende Untertasse. Flieg mit mir zum Ende des Weltraums. Der Mond ist nicht weit genug entfernt.

Und dennoch kamen durch die schlecht eingepaßten Schlafzimmerfenster die Geschichten hereingeströmt. Was würden Saul und Gayfryd - »sie hat den Stanley-Pokal der siegreichen Ehefrauen gekriegt, als siegreiche Ehefrauen so alltäglich waren wie Porsches« - jetzt tun, wo sie auf ihre letzten vierzig oder fünfzig Millionen Dollar herabgesunken sind? ... Und hurra, Muffie Potter Ashton ist schwanger! ... Und hat diese Paloma Huffington de Woody nicht mit S. J. Yitzhak Perlman am Gibson’s Beach in Sagaponack rumgeturtelt?... Und habt ihr das von Griffin und seinem großen, wunderschönen Dahl gehört? ... Wie bitte, Nina will ein Parfüm rausbringen? Aber, meine Liebe, die ist doch so weit hinüber, daß sie wie Mäusedreck stinkt ... Und Meg und Dennis, die sich grade scheiden lassen, zanken sich darüber, wer nicht nur die CD-Sammlung, sondern auch den Guru kriegt ... Welche bekannte Hollywood-Aktrice hat in die Welt gesetzt, daß der Aufstieg eines Jungstars sapphische Ursprünge hat, in die ein großer Studioboss verwickelt ist? ... Und haben Sie Karens jüngstes Werk Lebenslang schlanke Hüften gelesen?... Und Lotus, der coolste Nightclub, hat O. J. Simpsons Geburtstagsfete abgelehnt! Nur in Amerika, Leute, nur in Amerika!

Die Ohren mit beiden Händen zuhaltend, immer noch in seinem ruinierten Leinenanzug, schlief Professor Solanka ein.